Schöller, Marco (2000): Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft. Prolegomena – 148 S., Wiesbaden: Harrassowitz, ISBN 3-447-04335-0. 19,43 €.


Eine Methodendiskussion läuft in der deutschsprachigen Islamwissenschaft bereits über längere Zeit, doch hat es bislang an wissenschaftstheoretisch fundierten Beiträgen dazu gefehlt. Dieses kleine Buch, dessen ehrgeiziger Titel an Gadamer und Kant denken lässt, ist ein Versuch, diese Lücke zu füllen und eine philosophische und hermeneutische Grundlegung der Islamwissenschaft zu entwerfen. Konkrete Antworten zu aktuellen Forschungsproblemen verspricht es hingegen nicht: Methode und Wahrheit ist eine programmatische Schrift, die ganz dem hermeneutischen Ansatz und der diskursanalytischen Methode gewidmet ist. Der hohe Abstraktionsgrad der Argumentation zusammen mit der historischen Ausrichtung des Autors mag einen praxis- und gegenwartsbezogenen Leser zunächst wenig ansprechen, doch gerade in seiner theoretischen Abstraktion und programmatischen Geradlinigkeit ist Marco Schöller mit Methode und Wahrheit ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zur Methodendiskussion gelungen, der auch für die gegenwartsorientierte Islamwissenschaft von Belang ist.

Im ersten Kapitel "Rationalität und Historismus" (S. 7-38) setzt sich der Verf. kritisch mit vergleichenden Ansätzen mit universalistischem Anspruch auseinander. Als Vertreter deren muss Jörn Rüsen herhalten. Rationalistische Ansätze bleiben, so S., durch ihre "Sinnferne" (S. 12) für die Bedeutung und die Eigenart des spezifischen Gegenstandes blind, sie finden in der untersuchen Kultur nur das, was sie schon kennen und können daher keinen Beitrag zu ihrem Verständnis leisten. Von kulturübergreifenden Typologien hält S. entsprechend wenig; jene hätten bisher "eher zu vielen schiefen Deutungen, Verzerrungen oder, schlicht gesagt, Phantasmen geführt". (S. 33) Ganz bestreitet der Verf. die Möglichkeit des interkulturellen Vergleichs nicht. Dieser kann aber erst nach einer vorausgehenden sorgfältigen Rekonstruktion erfolgen und hat auch dann nur "eine heuristische, [...] dienende, keine methodische Funktion." (S. 38)

Der Vorrang gilt also eindeutig der Erforschung und Deutung des Gegenstandes in seiner spezifischen Eigenart und nicht der Anwendung allgemeiner Kategorien. In diesem Sinne formuliert S. seinen hermeneutischen Grundsatz der Offenheit: Kulturwissenschaftliche Forschung hat nicht "mit Fragestellungen an das zu Verstehende zu beginnen". Sie soll vielmehr "mit der Herausarbeitung der Fragestellungen beginnen, auf die das zu Verstehende eine Antwort gibt und durch deren Charakter es bestimmt ist." (S. 17)

Diesem Grundsatz treu bleibend argumentiert der Verf. im zweiten Kapitel "Prolegomena zu einer islamwissenschaftlichen Methodik" (S. 39-84), dass die Diskursanalyse die geeigneteste Methode einer historisch-hermeneutischen Islamwissenschaft sei. Sie sei am besten dazu geeignet, was S. von einer jeden Kulturwissenschaft verlangt: die eigenen Strukturen des Gegenstandes zu rekonstruieren, statt ihn in vorgegebene einzuordnen: "Die zukünftige Aufgabe der Islamwissenschaft besteht [...] in der (re-)konstruktiv-deutenden Analyse der islamischen Diskursivität und ihrer Aussagesysteme." (S. 67)

Dass S. sich hierbei hauptsächlich auf Michel Foucault beruft, ist folgerichtig: nicht nur hat Foucault den Begriff des Diskurses entscheidend geprägt, auch teilt der Verf. mit Foucault die Vorliebe für das Besondere und Einmalige. Dabei tritt aber zugleich ein wesentlicher Widerspruch in der Argumentation auf: So sehr S. in gut Foucaultscher Manier größte Vorsicht bei der Rekonstruktion und Beschreibung des Gegenstandes walten lässt, umso seltsamer ist es, dass er immer wieder (z.B. S. 4, 33 f., 41, 66, 108) "die islamische Kultur" als Gegenstand selbstverständlich hinnimmt. Bei solch generalisierenden Formulierungen wie "Diskursivität im Islam" (S. 41) muss man mit Foucault fragen, wieso S. den "Islam" als eine eindeutig abgrenzbare, homogene Kategorie ohne Diskontinuitäten, Brüche und Widersprüche hinstellen kann. Angesichts der historischen und geografischen Reichweite des islamischen Glaubens ist "Islam" als Wesensmerkmal eines Untersuchungsgegenstandes schließlich nicht weniger problematisch und nivellierend als vergleichende Kategorien wie "Lyrik", "Staat" oder "Fundamentalismus".

Durch diese mangelnde Problematisierung der angenommenen Differenz und Identität von Kulturen lässt sich der Verf. gelegentlich in bedenkliche Verallgemeinerungen verleiten, etwa wenn er das Primat der Diskursanalyse durch eine vermeintlich grundsätzliche Textorientierung der islamischen Kultur begründet (S. 66), oder die Tücken der Selbstrefenzialität bei Foucaults Diskursbegriff zu umgehen versucht, indem er erklärt, die Islamwissenschaft sei "demgegenüber in einer privilegierten Position, insofern es ihr die Methode der Diskursanalyse erlaubt, die jeweils eigenen Kategorien zu ent-eignen und trotzdem ideen- motiv- problem- oder begriffsgeschichtliche Untersuchungen anzustellen, denn sie steht in keiner genetischen Verbindung zu ihrem Untersuchungsgegenstand." (S. 45 f.) Es reicht ein Hinweis auf die hellenistische Philosophie oder die politische Geschichte des Osmanischen Reiches – von tiefer gehenden Überlegungen zur Hybridität der Kulturen ganz abzusehen – um einige "genetische Verbindungen" sehr wohl festzustellen. Überhaupt führt die Annahme eines derart abgegrenzten Untersuchungsgegenstandes zu einer schwer zu lösenden Spannung mit dem Grundsatz der hermeneutischen Offenheit, impliziert doch eine solche Annahme stets eine bereits stark vorstrukturierte Vorstellung von Existenz, Form, Wesen, Umfang und Grenzen des Gegenstandes.

Im dritten, wichtigsten und stärksten Kapitel "Methode und Wahrheit in der Islamwissenschaft" (S. 85-123) erläutert der Verf. schließlich sein hermeneutisches Programm. Die wissenschaftliche Forschung sei – wie jede Interpretation – nie frei von Voraussetzungen (auf die S. leider nicht genauer eingeht), also sei Objektivität im positivistischen Sinne unerreichbar. Das Leitprinzip einer jeden hermeneutischen Wissenschaft sei folglich nicht Objektivität, sondern Offenheit: Um den Sinn eines Textes zu entschlüsseln, gelte es, zuerst gut hinzuhören, offen zu sein, sich ansprechen zu lassen. Folgerichtig soll die hermeneutische Islamwissenschaft auch keine Theorien im Sinne von Gesetzen, Voraussagen oder Modellen erstellen, sondern Interpretationen – freilich sind letztere mit einer Methodik und mit übergeordneten Theorien verbunden. (S. 98 ff.). Auch distanziert sich S. von jedweden normativen Ansätzen, die Wahrheit der untersuchten Diskurse zu beurteilen. Die Aufgabe einer hermeneutischen Islamwissenschaft sei schließlich vielmehr die "(Re)konstruktion und Deutung von Wahrheitsansprüchen" (S. 121 f.).

Der Verf. richtet hierbei seine Kritik berechtigterweise nicht nur an universal-deduktive Theoriemodelle, sondern auch an Versuche, "das Fremde" (Tilman Nagel) als den Gegenstand und die Philologie als die Methode der Islamwissenschaft zu retten. S. argumentiert überzeugend, dass die Kategorien der Fremdheit und Vertrautheit keinen Erkenntniswert besitzen (S. 109 ff.) und dass die Philologie ein notwendiges Instrument der historischen Forschung ist, aber für die methodische Grundlegung einer Kulturwissenschaft nicht ausreicht. (S. 113 ff.)

Eine Gesamtbewertung von Methode und Wahrheit fällt nicht leicht. Die Stärken dieses programmatischen Entwurfs sind zugleich dessen Schwächen. Wer an einer islamischen Geistes- und Ideengeschichte arbeiten will, wird dieses Buch sehr schätzen. Auch für die Erforschung moderner islamischer Kulturen liefert es wichtige Anstöße. Gerade in der deutschsprachigen Islamwissenschaft, in der viel von dem Gegensatz zwischen Philologie und Sozialwissenschaften die Rede ist, wird es sich lohnen, jenseits dieser scheinbaren Dichotomie nach anderen Perspektiven Ausschau zu halten. Eine glaubwürdige und inspirierende alternative Perspektive stellt S. in Methode und Wahrheit vor. Seinen eigenen historisch-hermeneutischen Ansatz deckt S. in der Tat glaubwürdig ab, doch zeigt er wenig Anzeichen einer hermeneutischen Offenheit anderen Fragestellungen gegenüber. Nur die historische Erforschung von kognitiven Aspekten der "islamischen Kultur" ist hier von Belang. Diese Fixierung des Blickes auf diskursive Aussagesysteme bringt S. der intellektualistischen Tradition der Orientalistik manchmal gefährlich nah. Andere mögliche Zugänge zum Gegenstand, ja ganz andere mögliche Gegenstände lässt S. allzu gerne außer Acht. Vielleicht wäre es deswegen angebracht gewesen, dieses Buch lieber Diskursanalytische Methode und hermeneutische Wahrheit in der Islamwissenschaft zu nennen, um den Leser daran zu erinnern, dass es nur einen Weg von vielen zeigt, welche die moderne Islamwissenschaft beschreiten kann und soll.


Samuli Schielke, Leiden

This article was originally published in DAVO-Nachrichten, Heft 15 (Juni 2002), pp. 114-115.

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